Das Fach Geschichte setzt Schriftlichkeit voraus. Einer schriftlichen Aufzeichnung wird relativer Vernunftgehalt unterstellt. Nur: Wenn es nach den schriftlichen Quellen ginge, müssten unsere alten Wenden Menschenfresser gewesen sein. Eine böswillige Unterstellung, wie wir heute wissen, eine absichtsvolle Täuschung zur Erzeugung einer slawenfeindlichen Grundstimmung in der Bevölkerung. Als Zeugin der Anklage wird eine Gräfin von Mansfeld angeführt, Tochter des Grafen von Lüchow. Sie soll auf einer Fahrt durch die Heide einen alten Mann getroffen haben, der sein Grab schaufeln musste. Sein Sohn wollte ihn, den Unnützen, erschlagen und verscharren. Die gräfliche Zeugenaussage ist von einem namhaften Chronisten, Albert Krantz (1448 – 1517. A. Krantz: Wandalia, veröffentlicht 1519), verbreitet und später von anderen Autoren (z.B. Pastor Johann Petersen, Chronica, 1599) aufgegriffen und spektakulär ausgeschmückt worden (Petersen: … getödtet, darnach gekochet und gegessen ...).
Noch bis ins 19. Jahrhundert entfaltete das Schauermärchen von den menschenfressenden Wenden seine Wirkung. Auch Friedrich Engels griff diese Überlieferung auf und verwendete sie als Spitze gegen Preußens Gloria (Marx Engels Werke, Band 20, 1962 S. 444). Die Horrorgeschichte vom herzlosen Wenden wurde zwischenzeitlich als Propagandalüge, als Fake, entlarvt (Susanne Luber: Die Slawen in Holstein, Eutin 2007 / ausführlichere Zitate siehe: Anhang). Wir lernen daraus: Wo „Chronik“ draufsteht, muss nicht Wahrheit drin sein. Vorsicht also bei schriftlichen Überlieferungen, bei Urkunden und offiziellen Verlautbarungen! Das Märchen vom mörderischen Wenden hat gleichwohl das Slawenbild in Deutschland für Jahrhunderte geprägt. Beispiel Martin Luther. Er betrachtete die Wenden als „das böseste Volk aller“ und stellte sie auf eine Stufe mit den von ihm so gehassten Juden (Martin Luther, Tisch-Reden, Berlin 1929, s. 252; Nr. 4997; siehe Anhang). Krantz und ähnlich Gesinnte, auch Luther, spiegelten dabei nur den Geist ihrer Umgebung.
Mal abgesehen von der Glaubwürdigkeit gefeierter Chronisten – die Quellen zur frühmittelalterlichen Geschichte des Wendlandes sind nicht nur tendenziös, sie sind auch extrem mager. 450 Jahre Regionalgeschichte waren den meisten Zeitzeugen keinen Federstrich wert. Dass da dennoch etwas war, dass es sogar eine entwickelte Hofkultur gab, das leiten wir vorwiegend aus archäologischen Funden ab. Mehr als Chroniken und Quellen zeigen die Grabungsfunde, dass unser Landstrich seit dem frühen Mittelalter ein Teil der sehr ausgedehnten „Germania Slavica“ war.
Das Wendland, wie wir es heute identifizieren, war im Mittelalter noch kein Begriff. Seine bis heute nachwirkenden Alleinstellungsmerkmale, seine Charakteristika, fanden erst im 17. Jahrhundert nennenswerte Aufmerksamkeit. Damals entdeckten namhafte Persönlichkeiten (Leibniz), dass es in unserem zeitvergessenen Winkel zwischen Elbe und Drawehn einen besonderen Menschenschlag mit eigenem Brauchtum und einer ganz anderen Sprache gab.
Noch einmal zurück zu den tief im deutschen Bewusstsein verwurzelten Vorurteilen gegen die slawische Nachbarschaft. Wie wirkungsmächtig waren solche Ressentiments? Nehmen wir als Beispiel den „Generalplan Ost“ des Hitler-Regimes. Hinter diesem Stichwort verbirgt sich eine Anzahl rassenpolitischer Ziele des deutschen Nationalsozialismus, welche nicht nur auf die „Entjudung“ Osteuropas ausgerichet waren, sondern ebenso auf die Verfolgung des Slawentums. Der Plan sah die Tötung („Ausmerzung“) von 30 Millionen Osteuropäern vor. Bei Kriegsende 1945 hatte Nazi-Deutschland dieses Soll beinahe erfüllt; die Sowjetunion hatte zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren – nicht nur Militärangehörige, auch Zivilisten waren die Opfer - , Polen verlor 17 Prozent, Weißrussland und die Ukraine 25 Prozent ihrer Bevölkerung. Die größere Allgemeinheit der Deutschen hat diesen Teil der historischen Last bisher in einen „Erinnerungsschatten“ (Bundespräsident Joachim Gauck) verbannt.
(Siehe auch: Wikipedia: „Generalplan Ost“; HansUlrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1914 – 1949, München 2008; Das Urteil von Nürnberg, München 1946)
Im regionalen Volksmund ist die schaurige Begebenheit vom Vater mordenden Wendländer übrigens abgewandelt als Sage vom Jammerholz überliefert. (Undine Stiwich, Jörg Düker: Das Jammerholz, Lüchow 1999)
Möglicherweise retteten sich Überlebende der christlichen Massaker in das dünn besiedelte und von den Deutschen gemiedene Wendland, oder es wurden wendische Überlebende hier zwangsangesiedelt. Schriftliche Quellen geben darüber wenig Auskunft, unsere Forscher stützen sich fast ausschließlich auf archäologische Funde. Die zweite Epoche des Wendentums geht mit dem Ausbau der Rundlingsdörfer einher. Die Pläne für diesen Landesausbau sollen deutscher Herkunft sein, während die Umsetzung eine überwiegend wendische Leistung war. In den Rundlingen waren die slawischen Bewohner oft unter sich oder stellten die deutliche Mehrheit der Bevölkerung.
Die neuere Geschichte des Wendentums im Hannoverschen Wendland dürfte gleichfalls aus verschiedenen Epochen bestanden haben. Sie war, wenn man so möchte, auch eine Geschichte des Widerstandes. Abzuleiten ist das unter anderem aus der Platzierung der Gotteshäuser am Rande der Rundlinge. Sie deutet auf eine widerwillige, zumindest zögernde Annahme des Christenglaubens und der deutschen Art hin. Es gibt Hinweise darauf, dass die Hannoverschen Wenden noch viele Jahrhunderte lang ihren slawischen Riten anhingen. Erst um die Wende zum 18. Jahrhundert rückten sie davon ab.
(Siehe auch: Wolfgang Meibeyer: Zur Entstehung und Entwicklung von Rundlingsdörfern im Hannoverschen Wendland und in der Altmark, Lüchow, 2012; Joachim Schwebe: Volksglaube und Volksbrauch im Hannoverschen Wendland, Köln 1960)
Das Wort „Wenden“ war im Mittelalter eine Sammelbezeichnung für praktisch alle slawischen Stämme und Völker östlich der germanischstämmig besiedelten Gebiete. Schon die Römer benutzten die Bezeichnung Venethi oder Veneter als Oberbegriff für Völker östlich der Germanen. Bereits vor Christi Geburt wurde dieser Begriff von den Germanen übernommen und abgewandelt.
(Nach: Wolfgang Laur: Wenden und Slawen, 9. Jahresheft HALD 1983/84)
Die Bezeichnung „Hannoversches Wendland“ ist seit 1822 nachweisbar. Ältere Erwähnungen wie „Wentlande“ (1360), „Wenden Lande“ (17.Jahrhundert) und „Wendtlande“ (18.Jahrhundert) beziehen sich nicht immer nur auf die hiesige Region, sondern schließen weitere slawische Siedlungsgebiete mit ein, zum Beispiel in Mecklenburg, Pommern und Brandenburg. Später wurde diese Welt der Wenden auch unter dem Begriff „Germania Slavica“ zusammengefasst. (Nach: Wolfgang Laur: Wenden und Slawen, 9. Jahresheft HALD 1983/84)
Das Wendland ist nach heutigem Verständnis mit dem Gebiet des Landkreises Lüchow-Dannenberg identisch. Auch die Swienmark und der nördliche Bereich der Lindenmark (Marca Lipani) werden als Teile des Wendlandes angesehen. Das mittelalterliche Siedlungsgebiet der Wenden westlich der Mittelelbe reichte freilich über den Kreis Lüchow-Dannenberg hinaus. Wendische / slawische Siedlungen westlich der Mittelelbe gab es auch in Teilen der heutigen Landkreise Uelzen und Lüneburg, ferner in Teilen der Landkreise Altmarkkreis / Salzwedel und Stendal sowie im weiteren Landesteilen von Sachsen-Anhalt und vor allem in der mecklenburgischen und brandenburgischen Nachbarschaft jenseits der Elbe.
Auf der Stammes-Karte des Standardwerks „Die Slawen in Deutschland“ (Herausgeber Joachim Herrmann, Berlin 1985) reicht das Siedlungsgebiet der Drevanen weit über das Hannoversche Wendland hinaus und dehnt sich diesseits der Elbe in etwa von Lüneburg bis fast nach Magdeburg aus, in westlicher Richtung soll es sich ungefähr bis Celle erstreckt haben. Im Text werden die Drevanen bei Herrmann und seinen Mit-Autoren nur einmal ohne nähere Angaben namentlich erwähnt. Den alten Slawenchronisten wie Helmold von Bosau, Adam von Bremen, Thietmar von Merseburg oder den Verfassern der Fränkischen Annalen war die Bezeichnung Drevanen offenbar nicht geläufig.
Fraglich ist, ob es sich um einen Stammesnamen handelte oder eher um die Bezeichnung einer Landsmannschaft, einer gesellschaftlichen Schicht oder eines sozialen Typus'. Das Wendland ist wohl seit jeher ein zeitvergessener Winkel, Pufferzone zwischen Deutschen und Slawen, ein strichweise herrschaftsfreier Raum, idealer Zufluchtsort für Verfolgte, Versprengte, Verstoßene, die sich dem Arm irgendeiner Herrschaft entziehen wollten oder mussten. Ein Reservat? Auch was wir heute Aussteiger, Sonderlinge, Sinnsucher, Schrate, Nonkonformisten, Kultur- und Gesellschaftsflüchter nennen, hat es damals schon gegeben und mag sich hier gefunden haben. „Der Wald“ bot sich zur Verwirklichung eigener Lebensentwürfe an.
Ältere Funde deuten darauf hin, dass die Region zur Slawenzeit eher Durchzugs- als Siedlungsgebiet war. Der frühmittelalterliche Übergang von der wechselnden zur ortsfesten Siedlungsweise kam hier zögernd in Gang.
(Siehe auch: Joachim Herrmann, Die Slawen in Deutschland, Berlin 1985)
Im Hannoverschen Wendland gelang den Wenden ein - zeitweise von deutschen Herrschern gewollter - dauerhafter Übergang auf die Westseite der Elbe.
(Siehe auch: Joachim Hermann: Die Slawen in Deutschland, Berlin 1985)
In der Zeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation siedelten mehrere westslawische Stämme und Völker auf dem Reichsgebiet: Pommern, Slowinzen, Kaschuben, polnische Minderheiten, auch Böhmen/Tschechen. Auf dem Territorium der heutigen Bundesrepublik Deutschland siedelten im Mittelalter die Stammesverbände der Abotriten (auch „Obotriten“ geschrieben), der Wilzen, Heveller und Sorben, zu denen eine Anzahl von Teilstämmen gehörten (Wagrier, Polaben, Tollenser, Daleminzer ...).
In der Bundesrepublik Deutschland haben die Sorben in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen ihre slawischen Identitäten, Sprachen und kulturellen Überlieferungen bis heute bewahrt. Sie bilden eine ethnische Minderheit, der aktuell (2015) rund 60 000 Menschen angehören. Insbesondere die Niedersorben bezeichnen sich ausdrücklich als „Wenden“ und bilden ihrerseits eine Minderheit in der Minderheit der Sorben. Niedersorbisch und Obersorbisch gelten als zwei Sprachen. Hinzu kommen lokale sorbische Mischformen und Dialekte. Die Interessen der sorbischen Minderheiten werden vom Bund Lausitzer Sorben, der Domowina, vertreten. Dessen Leitung bevorzugt die Bezeichnung „Sorben“ statt „Wenden“. „In elf der sechzehn deutschen Bundesländer lebten vor eintausend Jahren autochthone, von den Deutschen zumeist als Wenden bezeichnete Slawen.“ (Werner Meschkank) Die Wenden haben somit einen beträchtlichen Anteil an der Bildung der bundesdeutschen Bevölkerung. Neben den Germanen sind sie unsere „anderen Ahnen“. (Siehe auch: Joachim Hermann: Die Slawen in Deutschland, Berlin 1985; Holger Bagola, Die Sorben - Zusammenstellung, Trier 2007; Werner Meschkank: Als die Wendengötter sterben sollten, Cottbus 2005) Es ist kaum mit Bestimmtheit zu sagen, welchem der benachbarten wendischen Stammesverbände die ersten wendländischen Slawen angehörten, den Abotriten / Obotriten oder denWilzen. Zum Stammesverband der Abotriten zählten die Wagrier, die Zirzipanen, die Polaben und die Abotriten selbst. Das mittelalterliche Wendland wurde zeitweise dem Stammesgebiet der Drewanen zugeordnet. Diese sollen Teil der so genannten Elbslawen = Polaben gewesen sein und daher enger mit den Abotriten als den Wilzen verbunden. Das Abotritenreich wurde durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten: das Polabisch. Im Wendland war Polabisch mehr als 1000 Jahre beheimatet und wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein gesprochen; sogar heute noch kennen alteingesessene Wendländer einzelne polabische Brocken. Polabisch ist eine westslawische Sprache und mit Kaschubisch (früher: Pomoranisch, Slowinzisch) sowie Polnisch verwandt; außerdem ist es dem Niedersorbischen nahe, welches „stark polabisch geprägt“ (Laur) wurde. Die wendländischen Slawen nannten ihre Sprache Venst'e oder Slüvenst'e = Wendisch. (Siehe auch: Joachim Hermann: Die Slawen in Deutschland, Berlin 1985; Polański / Sehnert: Polabian-English Dictionary, The Hague, Paris 1967)
Beispiele: Krautze - Birnbaum Klennow - Ahorn Kriwitz – krumm, etwas Krummes, auch: Bucht Thurau - Stier, Auerochs Nausen - Armut Liepe - Ort, wo Linden stehen
Landschaftsnamen: Göhrde - Burg, Schloss Lucie - Weide, Wiese, Sumpf, Sumpfniederung (Siehe: Antje Schmitz: Die Siedlungs- und Gewässernamen des Kreises LüchowDannenberg, Neumünster 1999)
Kleine Vokabelauswahl bitten - bedĕ bring - brind'oj (sprich: bringöi) Dame - erskӑ geh - aid gib - doj Guten Morgen - dübrӑ jautrü Guten Tag - dübrĕ dan Guten Abend - dübrĕ vicer Guten Nacht - dübrӑ nüc hallo , willkommen - ćol (sprich: tschol) Haus - vizenĕ Herr - er höre - slaus iss - jeʒ komm - püd küss - visaip lass - nex (sprich rau: nech) lauf - birst mach - sådӑj müde - mödӑ Pferd - t'ünst'ĕ (sprich: keunske) Schwert - varo sprich, sag - ric warte, halt ein - praized (sprich: prised) Weg, Straße - pǫt Wirtshaus - kraug Wort - slüvü Wurst - vorst (das t' entspricht unserem k und das d' unserem g)